Blick von Außen
Jean Améry
Öffentliche Zurschaustellung
Die Buchenwalder SS führt auch außerhalb des Lagers Hinrichtungen durch. Sie sind öffentlich. Selbst das Fotografieren ist nicht verboten.
Mit Kriegsbeginn kommen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in eine deutsche Gesellschaft, die über Jahre, und nicht zuletzt durch die Drohung der Konzentrationslager, als Rassen- und Kriegsgemeinschaft formiert worden ist. Um ihre strikte Trennung von der Bevölkerung hervorzuheben, bedient sich die NSDAP mittelalterlich anmutender Rituale des öffentlichen Zurschaustellens. Deutsche Frauen, denen man verbotene Kontakte zu Zwangsarbeitern aus Polen und der Sowjetunion vorwirft, werden öffentlich an den Pranger gestellt. Um sie zu demütigen, werden ihnen die Haare geschoren. Vielfach werden Fotos davon in der lokalen Presse veröffentlicht. Für viele der Frauen folgt nach diesem „Ausschlussritual“ eine Einweisung in ein Arbeitserziehungs- oder Konzentrationslager. Die betroffenen Männer werden in das nächste Konzentrationslager eingewiesen.
In den Jahren 1940 bis 1942 holt die Gestapo mehrfach polnische Männer aus Buchenwald wieder ab, um sie an verschiedenen Orten Thüringens öffentlich am Galgen zu erhängen. Zur Teilnahme an diesem staatlichen Morden treibt man die polnischen Zwangsarbeiter umliegender Orte zusammen und lädt die Bevölkerung zum Zuschauen ein. Man kann davon ausgehen, dass Gestapo wie Bevölkerung das öffentliche Morden fotografisch dokumentieren. Doch nur wenige Bilder sind überliefert.
Die wahrscheinlich größte Gruppe von Fotos, vermutlich aus beiden Quellen stammend, zeigt den Mord an einem polnischen Zwangsarbeiter und an 19 polnischen Buchenwald-Häftlingen in der Nähe von Poppenhausen am 11. Mai 1942. In ihrer Gesamtheit vermitteln sie nicht nur einen Eindruck vom Geschehen, sondern belegen, wie in den ersten Kriegsjahren die Teilnahme der Bevölkerung an Hinrichtungen von „Gemeinschaftsfremden“ zum normgerechten Verhalten wird.
Das geheime Foto
KZ-Häftlinge gelten in der öffentlichen Wahrnehmung als Ausgestoßene. Sie werden nicht fotografiert, höchstens beschimpft oder bespuckt.
Buchenwald entsteht als geschlossenes Lager. In den ersten Jahren bleibt die Mehrzahl der Insassen streng isoliert, und die SS ist darauf bedacht, ein Zusammentreffen mit der Bevölkerung der Umgebung zu vermeiden. Die Arbeitskommandos der Häftlinge marschieren in den frühen Morgenstunden zu den Arbeitsstellen aus, die sich meist im Nahbereich des Lagers befinden, und kehren am Abend zurück. So kommen anfangs nur die Einwohner der südlich und nördlich des Ettersberges gelegen Gemeinden überhaupt in Sichtkontakt mit den Arbeitskolonnen der in Häftlingsdrillich gekleideten Männer, die das Klinkerwerk in Berlstedt (1938/39) und die Wasserleitung Tonndorf-Daasdorf-Buchenwald (1938/40) bauen.
Das einzige Foto einer Häftlingskolonne aus diesen Jahren ist versteckt aus dem Dachfenster eines Hauses in Gaberndorf aufgenommen worden. Es zeigt das Häftlingskommando Wasserbau auf der Straße nach Daasdorf. Der 17-jährige Armin Meisel nahm es mit einer Voigtländer Balgenkamera, die er zum Geburtstag bekommen hatte, auf. Er wartete auf gutes Wetter und schoss ein einziges schnelles Foto. Obwohl er dachte, „das könnte mal was Historisches werden“, zeigte er es in den nächsten 50 Jahren dennoch keinem Menschen.
So deutlich es belegt, dass keinesfalls alle Türen und Fenster zugehen, wenn Häftlinge durchs Dorf ziehen, so verweist die Art seiner Entstehung auf die Angst, dies zu fotografieren. Es ist wohl nicht nur die Angst vor Bestrafung, denn es ist nicht ein Fall überliefert, wo das Fotografieren von Häftlingen außerhalb der Lager geahndet wird. Vielmehr ist in der nationalsozialistischen Gesellschaft das Wegsehen die Norm und das bewusste Hinsehen oder gar Fotografieren abwegig. Eine andere Art von Zuschauen, die gleichermaßen zum Bekenntnis wird, gibt es trotzdem. Nicht selten werden neuankommende Häftlinge auf dem Marsch vom Bahnhof Weimar nach Buchenwald von Einwohnern der Stadt beschimpft oder bespuckt. Fotos davon werden nicht gemacht.
„... mitten im deutschen Volke“
Mit dem Aufbau des Systems der Außenlager werden Häftlinge im Alltag der Kriegsgesellschaft immer präsenter. Vor allem ihr Erscheinen im Straßenbild der Städte, wo sie Trümmer und Blindgänger räumen müssen, wird fotografiert.
Die Bombardierung des Ruhrgebietes und von Städten im Rheinland seit Herbst 1942 bewirkt eine tiefe Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung. In dieser Situation werden die schnelle Beräumung verschütteter Straßenzüge, die Bergung der Toten und die rasche Beseitigung von Blindgängern zum Ausweis für die Handlungsfähigkeit der nationalsozialistischen Verwaltungen. Für die lebensgefährliche Arbeit in den Trümmern stellt die SS in verschiedenen Konzentrationslagern mobile Häftlingsbaubrigaden auf. Ihr Entsenden und Etablieren – zum Beispiel im Kölner Messelager – steht nicht nur am Anfang einer neuen Entwicklung im System der Konzentrationslager, sondern bedeutet auch eine gänzlich veränderte Präsenz von Häftlingen im nationalsozialistischen Kriegsalltag.
Bald befindet sich mehr als die Hälfte der Buchenwaldhäftlinge nicht mehr im Stammlager, sondern nunmehr täglich in den Straßen der Städte und in Fabriken mitten unter der deutschen Bevölkerung. Doch nicht überall wird ihre Anwesenheit im Foto dokumentiert. Lediglich in den Trümmerfeldern richten einzelne Berufsfotografen und Laien das Objektiv hin und wieder auf sie. So entstehen in den Straßen von Köln und Weimar Fotoserien, die arbeitende Häftlinge, von bewaffneten Posten bewacht, zeigen. Eine andere Qualität haben die Fotos, in denen Bombenräumkommandos porträtiert werden. Hunderte von Häftlingen verlieren bei dieser Arbeit ihr Leben. Liegen ihre Entstehung wie Überlieferung noch weitgehend im Dunkeln, so können sie als möglicherweise letzte Lebenszeugnisse gelesen werden. Zugleich sind sie Dokumente einer Annäherung zwischen Häftlingen und Bewachern, deren Leben oft gleichermaßen vom Zufall abhängt. Für den alltäglichen Blick der deutschen Mehrheitsbevölkerung auf KZ-Häftlinge stehen diese wenigen Fotos nicht.