Die Häftlinge
Rolf Kralovitz
Häftlinge im Blick der SS
Für ihre Akten lässt die Lagerkommandantur die aus ganz Europa eingelieferten Menschen fotografieren. Zugleich sollen Fotos ausgewählter Häftlinge die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten bestätigen. Da Häftlinge der Fotoabteilung einige Bilder verstecken, sind auch Fotos überliefert, die das Grauen des Lagers zeigen.
Seit 1939 werden die Häftlinge kurz nach ihrer Ankunft für die Lagerkartei fotografiert. In der Tradition des Polizeifotos entstehen Dreierporträts, auf denen die Köpfe der Gefangenen rasiert sind und sie Häftlingskleidung tragen. Statt des im kriminalistischen Gebrauch üblichen Namensschildes dienen Einlieferungsdatum und Transportnummer der Identifizierung. Passfotos als „wehrunwürdig“ klassifizierter Deutscher – sie zeigen die politischen Häftlinge in extra zu diesem Zweck bereitgehaltener Kleidung – entstehen für Wehrausschließungsscheine, die den Häftlingsakten beigefügt werden.
Die Fotos entstehen in der Fotoabteilung, die in der Baracke der Politischen Abteilung, der Außenstelle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) im Lager, untergebracht ist. In ihr arbeiten unter SS-Aufsicht durchschnittlich neun Häftlinge, überwiegend Deutsche, die aus politischen Gründen oder als Zeugen Jehovas inhaftiert wurden. Sie sind auch dafür zuständig, Todesfälle zu dokumentieren. Dazu zählen Selbstmorde, Erhängungen und Transport-Tote. Der langjährige Kapo, Edo Leitner, und einige seiner Kameraden fertigen heimlich Abzüge solcher Fotos an und verstecken sie in Blechbüchsen, die sie unter der Baracke vergraben. Als beim Bombenangriff 1944 fast der gesamte Bildbestand verbrennt, werden auch sie zerstört. Nur Georges Angéli gelingt es, einige Fotos von ermordeten Häftlingen zu retten.
Darüber hinaus sind die Häftlinge als Motiv für die SS von Interesse, wenn außergewöhnliche Ereignisse zu dokumentieren sind, wie die Ankunft besonderer Transporte oder der Besuch hoher NS-Funktionäre. Die Häftlinge sind dem Blick der Fotografen auch in erniedrigenden Situationen wie der Desinfektion ausgeliefert. Der Akt des Fotografierens wird zu einem Teil der Demütigung. Mit Fotos versucht die SS, ihre eigenen rassistischen Vorstellungen zu unterlegen. Der ehemalige Häftling Fritz Lettow erinnert sich: „Eines Tages mussten alle Judenblocks am Tor stehenbleiben. Sie wurden gemustert, und hie und da wurden einige notiert. Man hat sie dann in den nächsten Tagen fotografiert, wobei sie ihre Zebrakleidung anbehielten. Mit Absicht hatte man solche Juden herausgesucht, die besonders hässlich waren oder betont jüdisch aussahen.“
Der ehemalige Häftling Edo Leitner berichtet von seiner Arbeit in der Fotoabteilung, der er von 1939 bis zur Bombardierung 1944 angehörte. Seit 1940 war er deren Kapo. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Fotoalben für die SS zu gestalten und Todesfälle sowie medizinische Experimente zu dokumentieren.
Gezeigt wird ein Ausschnitt aus dem Film „Ich würde die Vergangenheit schon in Ruhe lassen, ... wenn sie mich in Ruhe lassen würde“ (1983) von Heidi Scholaen und Horst Haugg.
Dauer: ca. 7 Minuten
Heimlich fotografiert
An einem arbeitsfreien Sonntag im Juni 1944 entwendet Georges Angéli eine Kamera und macht heimlich elf Fotos im Lager. Die Aufnahmen des Franzosen sind die einzigen, die das KZ aus der Perspektive eines Häftlings zeigen.
Nur Häftlinge aus der Fotoabteilung der SS haben Zugang zu Kameras. Angéli, ein gelernter Fotograf, nimmt vom Dachboden der Arbeitsbaracke eine ausrangierte Amateurkamera sowie zwei Filme à acht Bilder. Er will Zeugnis ablegen: „Was das anbelangt, dass ich mein Leben aufs Spiel gesetzt habe, so schien mir das im Vergleich zu dem, was die anderen durchmachen mussten, geringfügig. Es war ermutigend und berauschend, sich zu sagen, dass das Risiko, das man eingeht, nützlich sein kann.“
Sonntags sind wenige Aufseher im Lager. Um nicht aufzufallen, hält Angéli die in Papier eingewickelte Kamera unter dem Arm oder vor dem Bauch. Zudem lässt er sich bei seinem Gang durchs Lager von drei Kameraden begleiten. Es gelingt ihm sogar, direkt vor dem Lagertor stehend, das Krematorium zu fotografieren. Er geht auch in das überfüllte Kleine Lager, ein Quarantäne- und Durchgangslager, in dem gerade Massentransporte aus seiner Heimat angekommen sind. Da er nicht durch den Sucher schauen kann, werden einige Fotos schief oder unscharf.
Viele der Bilder erstaunen, passen nicht in unsere Vorstellung von Konzentrationslagern. Tatsächlich zeigen sie das Lager in einem untypischen Zustand: Im Juni 1944 haben die Häftlinge sonntags halb- oder ganztägig arbeitsfrei. Da sich dann auch die Block- und Kommandoführer der SS nicht im Lager aufhalten, können die Häftlinge die Zeit nutzen, um sich etwas zu erholen, gar spazieren zu gehen. Aus der Befürchtung heraus, die vor dem Krematorium ruhenden Häftlinge könnten einen falschen Eindruck vom Leben im Lager erwecken, retuschiert Angéli später das Bild.
Zusammen mit Zweitabzügen von SS-Fotos, die er heimlich angefertigt hat, versteckt Angéli die Filme in einer Blechdose. Erst nach der Befreiung des Lagers lässt er sie in Frankreich entwickeln und zeigt sie in kleineren Ausstellungen.