Schwarz auf Weiß
Die Befreiten

Die Befreiten

„Eines Tages konnte ich mich unter Aufbietung aller Kräfte aufrichten. Ich wollte mich in einem Spiegel sehen, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Ich hatte mich seit dem Ghetto nicht mehr gesehen. Aus dem Spiegel blickte mich ein Leichnam an. Sein Blick verlässt mich nicht mehr.“
Elie Wiesel
Die Befreiten

Überlebende

In Buchenwald treffen die amerikanischen Truppen erstmals auf eine große Anzahl von Überlebenden der Konzentrationslager. Die Fotos ihrer ausgemergelten Körper spielen in der Berichterstattung über Deutschland eine entscheidende Rolle. Einige der Bilder werden zu Symbolen des Holocaust.

Mit Buchenwald befreien amerikanische Truppen erstmalig ein großes, noch belegtes Konzentrationslager. Zwar hatte die SS noch kurz zuvor mehr als 20.000 Gefangene auf Todesmärsche getrieben, doch etwa ebenso viele blieben im Lager zurück. Die Amerikaner treffen auf Überlebende aus der Sowjetunion, Polen, Frankreich, Deutschland, der Tschechoslowakei, Ungarn, Spanien und vielen weiteren Ländern. Unter ihnen sind mehrere Hundert Kinder und sehr viele Jugendliche, die in den Monaten zuvor aus den Vernichtungslagern im Osten nach Buchenwald transportiert worden waren. Außer dem Stammlager, das ein reines Männerlager ist, befreien die Amerikaner auch Außenlager Buchenwalds, in denen Frauen für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten mussten.

Besonders der Anblick der Überlebenden des Kleinen Lagers mit ihren skelettartigen Körpern schockiert die Soldaten und Journalisten. Sie bezeichnen sie häufig als „the living dead“. Die Situation, in der sie sie vorfinden, erscheint ihnen unfassbar. Umso wichtiger sind der US-Armee die offiziellen Fotos der Signal Corps, da befürchtet wird, die Berichte aus Buchenwald könnten als Gräuelpropaganda abgetan werden.

Als einer der ersten fotografiert der Militärfotograf Harry Miller am 16. April in den Baracken des Kleinen Lagers befreite Häftlinge. Unter ihnen ist Mel Mermelstein, damals 18 Jahre alt. Er erinnert sich: „Uns wurde dann eine Anweisung gegeben, uns wieder auf die Pritschen zu legen. [...] Ich beeilte mich, nach ganz oben zu kommen, um mich vor diesen Leuten zu verstecken, über die ich nichts wusste. Dann ging der Blitz einer Glühlampe los, woraufhin ich schnell aufsah, um zu gucken, was passiert war“. Bereits am 29. April erscheint das Foto in der New York Times, im Juni wird es in einer Ausstellung in Washington gezeigt. Die im Kleinen Lager aufgenommenen Bilder, die mehrstöckigen Pritschen, die ausgehöhlten Gesichter, die gestreifte Häftlingskleidung, der Stacheldraht werden zu Symbolen nicht nur für Buchenwald, sondern für den Holocaust schlechthin.

Ein amerikanischer Soldat mit Kamera inmitten befreiter Häftlinge.
Walter Chichersky, U.S. Signal Corps, 14. April 1945
National Archives at College Park, Maryland
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Vom Häftling zum Zeugen

Noch im befreiten Lager stellen sich 177 ehemalige Häftlinge als Zeugen für künftige Kriegsverbrecher-Prozesse zur Verfügung. Um ihre eidesstattlichen Berichte zu beglaubigen, werden sie von amerikanischen Soldaten des Signal Corps fotografiert.

Unmittelbar nach der Befreiung beginnen die Amerikaner, Beweise für die in Buchenwald verübten Verbrechen zu sammeln. Dabei kommt den Zeugenaussagen befreiter Häftlinge eine entscheidende Bedeutung zu. Die US-Armee schickt eine Gruppe von Vernehmungsoffizieren unter Leitung von Raymond C. Givens nach Weimar. Ab dem 18. April vereidigen sie Zeugen aus 14 Ländern. Es sind vor allem Überlebende mit langjähriger Haftzeit in Buchenwald, die aufgrund ihrer Erfahrungen in der Lage sind, einzelne SS-Leute konkret zu belasten.

Die Zeugen machen Angaben zu Namen, Geburtstag, Wohnort und Beruf und schildern knapp ihren Haftweg sowie besonders grausames Verhalten der SS, das sie persönlich erlebt haben. Die eidesstattlichen Erklärungen werden von Übersetzern ins Englische übertragen und handschriftlich festgehalten. Sie bilden die wichtigste Grundlage für die Ermittlungen der amerikanischen Staatsanwaltschaft während des Dachauer Buchenwaldprozesses 1947.

Die Vernehmungsoffiziere arbeiten mit Fotografen der 166th Signal Photo Company zusammen. Sie fotografieren die Zeugen zunächst einzeln, später – vielleicht aus Mangel an Filmmaterial – auch in Gruppen, jeweils mit einer Erkennungsnummer, anhand derer die Zeugen identifiziert werden können. Die Gruppenfotos werden nach der Entwicklung auseinander geschnitten und als Personenfotos an die entsprechenden Zeugenprotokolle geheftet. Die Überlebenden des Lagers treten dem Betrachter auf den Fotos als aktive Zeugen in eigener Sache entgegen. Obwohl sie noch Häftlingskleidung tragen, sind ihre Blicke nicht mehr die von Gefangenen.

Zeugenaussage von Dr. Ferdinand Gyönggyösi in englischer Übersetzung.
U.S. Army Europe War Crimes Branch, 21. April 1945
National Archives at College Park, Maryland
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„Aufbau einer neuen Welt“

Direkt nach der Befreiung beginnen viele Häftlinge, sich politisch zu engagieren. Das Internationale Lagerkomitee, eine während der Lagerzeit entstandene Widerstandsgruppe, organisiert Kundgebungen auf dem ehemaligen Appellplatz.

Am 11. April 1945 macht der Franzose Paul Bodot, Unteroffizier der US-Armee, ein erstaunliches Foto: Bewaffnete Häftlinge setzen außerhalb des Lagers SS-Männer fest, die beim Heranrücken der amerikanischen Truppen zu fliehen versucht hatten. Es sind vor allem ehemalige Mitglieder der Häftlingsverwaltung, die in den ersten Tagen nach der Befreiung nicht nur bei der Gefangennahme von Wachleuten, sondern auch bei der Aufrechterhaltung der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten eine wichtige Rolle spielen.

Am 19. April organisiert das Internationale Lagerkomitee eine Trauerfeier für die Toten des Konzentrationslagers. Das einzige Foto dieser Kundgebung stammt von dem amerikanischen Signal Corps-Fotografen Don Ornitz und zeigt, wie die Teilnehmer nach Nationen geordnet aufmarschieren. In seiner Bildlegende zitiert der Soldat wichtige Passagen der Ansprache, die mit dem „Schwur von Buchenwald“ endet.

In den nächsten Wochen wird der ehemalige Appellplatz immer mehr zu einem politischen Versammlungsort. Fotografisch ist vor allem die große Maifeier gut dokumentiert. Die Fotos, von den befreiten Häftlingen selbst gemacht, zeigen, mit wie viel Aufwand die Feier vorbereitet wurde: Die Baracken sind mit Parolen für das zukünftige Deutschland geschmückt; die Teilnehmer tragen Fahnen der Heimatländer und -regionen.

Nicht alle ehemaligen Häftlinge nehmen an diesen Aktivitäten teil. Vor allem Überlebende des Kleinen Lagers ringen noch Wochen mit dem Tod. Für die etwa 4.000 Juden unterschiedlichster Herkunft organisiert der amerikanische Militärrabbiner Herschel Schacter Gottesdienste in der voll besetzten Kinobaracke. Sie sind auch Ausdruck für die Suche nach einer gemeinsamen jüdischen Identität.

Rückseite des Fotos, das Don Ornitz von der Trauerkundgebung macht.
U.S. Signal Corps, U.S. Signal Corps, 19. April 1945
National Archives at College Park, Maryland
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Vor der Abreise

Bevor sie im April, Mai oder Juni 1945 das Lager verlassen, stellen sich viele ehemalige Häftlinge mit ihren Kameraden für ein Erinnerungsfoto auf.

Vor ihrer Abreise lassen sich viele der befreiten Häftlinge in Gruppen fotografieren. Auf den Bildern sind Menschen zu sehen, die sich einander aus unterschiedlichen Gründen verbunden fühlen: Als Kameraden aus den Arbeitskommandos, als politische Mitstreiter, Glaubensbrüder oder einfach als Freunde. Dabei verweisen Stacheldraht, Wachturm oder Baracke auf den Entstehungsort der Bilder, das befreite KZ Buchenwald.

Es ist vor allem Alfred Stüber, der die Gruppenporträts anfertigt. Als Mitarbeiter der Fotoabteilung kennt er viele der abgebildeten ehemaligen Häftlinge persönlich. Er fertigt für sie Abzüge der Fotos an, die sie sich als Erinnerung an die gemeinsam durchgestandene Zeit mit nach Hause nehmen. Während Stüber in erster Linie deutsche Gruppen fotografiert, interessieren sich ausländische Fotografen und Delegierte jeweils für ihre eigenen Landsleute.

Die Abreise der Häftlinge erstreckt sich über mehrere Monate. Als erstes verlassen ab dem 22. April die Franzosen das Lager, gefolgt von Belgiern, Luxemburgern, Spaniern, Holländern, Norwegern und Tschechen. Mitte Mai reisen die ersten Gruppen von Deutschen ab. Unmittelbar vor der Abreise entsteht häufig noch ein Abschiedsfoto. Der Bus, ein LKW oder der Zug stehen schon bereit.

Von Mai bis zur Übergabe des Lagers an die sowjetische Armee am 4. Juli 1945 fungiert Buchenwald als Auffanglager für ehemalige KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Nicht alle können repatriiert, d.h. in ihre Heimat zurückgebracht werden. Viele Osteuropäer, insbesondere Juden, suchen nach einem Aufnahmeland. Die mehreren Hundert Buchenwald-Kinder, die häufig als Einzige ihrer Familie den Holocaust überlebten, verlassen das Lager im Juni in Richtung Frankreich, Schweiz oder Großbritannien, wo sie in Kinderheimen untergebracht werden. Für viele ist es nur eine Zwischenstation, der eine Auswanderung in die USA oder nach Palästina folgt.

Angehörige des ehemaligen Arbeitskommandos „Häftlingsbekleidungskammer“ auf der Treppe des Kammergebäudes. Der ehemalige Häftling Otto Sepke (1. Reihe unten, 5. von links) ließ elf seiner abgebildeten Kameraden auf der Rückseite unterschreiben.
Alfred Stüber, ehemaliger Häftling, 30. April 1945
Sammlung Gedenkstätte Buchenwald